Wie ich zum Reisen kam

Jeder Reisende hat seine eigene Geschichte mit im Gepäck. Mal ist sie ganz leicht zu (er)tragen, mal schwerer. Aber all unsere Geschichten haben eines gemeinsam: den Mut aus dem alten Leben auszubrechen und in ein Neues aufzubrechen.

In meinem ersten Leben war ich Radiomoderatorin. Ein Traumjob! MEIN Traumjob – das dachte ich zumindest. Aus heutiger Sicht bin ich mir in dieser Hinsicht nicht mehr so sicher. Denn dieser Beruf hat mir in den letzten Jahren nicht nur viel Freude, Spaß und Abwechslung gebracht, er hat mich auch weit über meine Grenzen geführt und mich mehr Kraft gekostet als ich zur Verfügung hatte.

Burnout 01

„Es gibt ein Leben VOR dem Tod, Frau Meyer!“

Mit diesem Satz hat mich mein Arzt im Sommer 2015 wach gerüttelt. Damals war ich 28 Jahre alt, doch ich saß vor ihm wie ein schutzloses Kind und konnte nicht aufhören zu weinen. Seit Wochen quälten mich Bauchschmerzen, mir war unerträglich übel, ich konnte mich zu nichts motivieren, war total nah am Wasser gebaut und so unfassbar müde. Ich hatte seit Monaten jede Minute meiner Freizeit dafür genutzt zu schlafen.

Für meinen Traumjob beim Radio war ich in den vergangenen acht Jahren aus meiner Heimat an der Nordsee über Hamburg, Bochum, Berlin, Frankfurt am Main und Nürnberg bis nach München gezogen. Ich nahm jedes bessere Jobangebot an, blieb nie länger als zwei Jahre an einem Ort, schlug keine Wurzeln und baute keine engen Beziehungen auf.

Ich wechselte die Arbeitszeiten wie Hotels die Handtücher

Auch im Job war an feste Arbeitszeiten oder Tätigkeitsfelder nicht zu denken: ich wechselte von der Frühschicht in die Spätschicht, arbeitete wochentags und am Wochenende, als Nachrichtensprecherin, Moderatorin, Online-Redakteurin und Reporterin. Dabei hatte ich stets das Gefühl mir keine Pause leisten zu können, nicht fehlen zu dürfen und nicht ersetzbar zu sein. „Ohne Dich bricht der Laden zusammen“ – ist ein typischer Irrglaube, den viele Chefs in diversen Branchen ihren Angestellten vermitteln. Und wenn es nicht die Vorgesetzten sind, dann sind es meist wir selbst, die sich diese hohen Ziele stecken. So wie bei mir.

Mittlerweile war ich als Nachrichtensprecherin dort angekommen, wo jeder erfolgreiche Radiomacher hin möchte: in der Morningshow, die beste Sendezeit. Doch die vielen negativen Meldungen, auf die wir Menschen so sehr abfahren, begleiteten mich bis weit in den Feierabend hinein. Denn Nachrichten schlafen nicht. Sie begegnen dir rund um die Uhr auf Fernsehern im Fitnessstudio, auf Bildschirmen in der U-Bahn, beim kurzen Blick aufs Handy und in Gesprächen mit Freunden.

Warum mache ich das?

Diese Frage habe ich mir zwei Jahre lang gestellt – jede Nacht, wenn mich meine zwei Wecker um 3:33 Uhr aus dem Tiefschlaf gerissen haben. Wenn ich schlaftrunken völlig routiniert und gleichgültig die Bewegungen ausgeführt habe, die nötig waren um mich aus dem Bett ins Badezimmer zu begeben, mich anzuziehen und mich aufs Fahrrad zu schwingen. Wenn ich um kurz vor 4 Uhr morgens durch komplett leere Straßen fuhr und ganz allein ein dunkles Büro betrat. Wenn ich jeden Tag ohne ausreichende Pausen und ohne am Arbeitsplatz essen oder trinken zu dürfen (die teure Technik) von 4 Uhr bis 13 Uhr unter Zeitdruck durcharbeitete. Wenn ich nach Feierabend versuchte zu schlafen und doch kein Auge zu bekam. Wenn ich abends mit den Erstklässlern nach dem Sandmännchen ins Bett ging, anstatt mit meinen Freunden um die Häuser zu ziehen. 

Stress hat viele Gesichter

Jeder Körper reagiert anders auf lang anhaltende, stressige Situationen. Zu meinen ersten Symptomen gehörten jene Schlafprobleme. Kein Wunder: ich stand mittlerweile das vierte Jahr in Folge regelmäßig nachts auf. Immer öfter ging ich zur Arbeit ohne eine einzige Stunde geschlafen zu haben. Der Schlafmangel machte sich bemerkbar: ich hatte keinen Appetit mehr, verlor viel Gewicht, ich wurde träge, schlapp und lustlos. Ich verschlief Verabredungen und bekam selbst eine spontane Party in meiner WG nicht mit – ich hatte einen nahezu komatösen Zustand erreicht.

Zu den Schlafstörungen gesellten sich bald starke Rücken- und Kopfschmerzen, mein Herz raste wie verrückt, ich bekam alle zwei Wochen einen fiesen Lippenherpes und ein ständiges Zucken in meinem Auge brachte mich um den Verstand.

Mittlerweile konnte ich in sämtlichen Arztpraxen einen Zweitwohnsitz anmelden

Auf der Suche nach der Ursache dieser körperlichen Anzeichen verbrachte ich mehr Zeit in Arztpraxen als zu Hause: ständige Bluttests und diverse Untersuchungen standen auf meinem Nachmittagsprogramm. Eine neue Abkürzung zog in meinen Alltag ein: „o.B.“ – ohne Befund. Ich wechselte die Ärzte, holte zweite Meinungen ein, ich sammelte gelbe Scheine wie andere Pokémon-Karten. Aber ich blieb nie lange zu Haus. Denn ich bin Perfektionistin. Für mich bedeutet krank sein: den Erwartungen nicht zu entsprechen … zu versagen.

Ein Jahr verging bevor mein Körper zu seiner letzten und bis dahin härtesten Waffe griff: er bereitete mir Magen- und Darmprobleme. Dieses Druckmittel zeigte endlich Wirkung. Ich hielt zum allerersten Mal in meinem Leben an und nahm meinen Körper bewusst wahr. Er schrie um Hilfe. Und endlich konnte ich ihn hören. Dass noch weitere Jahre vergehen mussten und schlimmere Symptome hinzukamen, konnte ich damals noch nicht ahnen. Und das war auch gut so.

Unter den vielen Ärzten, die ich in dieser Zeit kennengelernt und um Hilfe gebeten hatte, war ein Allgemeinmediziner, der mir überspitzt gesagt mein Leben gerettet hat. Ein Arzt, der keinen Ultraschall oder Bluttest brauchte um zu sehen, was mir fehlte. Er sah als einziger, dass ich mit meiner derzeitigen Lebenssituation komplett überfordert war. Durch ihn habe ich die Verbindung von Körper und Psyche kennengelernt, die mir bis dahin in diesem Umfang nicht bewusst war. 

„Burnout? Aber ich bin doch erst 28!“

Im Sommer 2015 fragte er mich den Satz, der mich wachrüttelte: „Es gibt ein Leben VOR dem Tod, Frau Meyer. Das wissen Sie, oder?“

Nein, das hatte ich vergessen.

Ein Leben neben der Arbeit hatte ich bei meinem Sprint seit dem Abitur völlig aus den Augen verloren. Durch meinen Job in der Frühschicht unternahm ich kaum mehr etwas mit meinen Freunden. Während sie nach Feierabend gemeinsam essen gingen, fiel ich ins Bett. Während sie am Wochenende ausgingen, schlief ich vor Erschöpfung ein. Auf die Frage nach meinen Hobbys hatte ich keine bessere Antwort parat als „essen und schlafen“. Etwas anderes tat ich neben meinem Job nicht mehr. Ich hatte vergessen mir abseits des beruflichen Lebens ein Privatleben aufzubauen. Schlimmer noch: ich hatte mich selbst vergessen. 

Die Diagnose traf mich wie ein Schlag ins Gesicht

Burnout. Ich war ausgebrannt. Völlig überfordert. Ich hatte mein Limit zu oft und zu lange am Stück überschritten. Und das mit gerade einmal 28 Jahren – nach nur vier Lehr- und vier Berufsjahren. Wie sollte ich so die Zeit bis zur Rente schaffen? Für mich brach eine Welt zusammen. Meine Welt! Eine Welt, die bis dahin nur aus meinem Job bestand.

Vier Monate war ich nicht arbeitsfähig – und doch arbeitete ich jeden Tag: an mir selbst. Wie tief ich damals schon in meinen krankhaften Verhaltensmustern gefangen war, wurde mir erst klar, als ich endlich den Pause-Knopf gedrückt hatte. Aus der lebenslustigen, lauten, frechen Frau, die ich einmal war, war eine ruhige, traurige Person geworden.

Ich wollte alleine sein. Ich fühlte mich jeden Tag krank, meine Glieder schmerzten so heftig, dass ich nie wieder aufstehen wollte. Ich hatte keine Kondition mehr, selbst kurze Strecken auf dem Fahrrad fühlten sich für mich wie drei Etappen der Tour de France an. Ich weinte viel und zog mich zurück. In Menschenmassen fühlte ich mich unwohl, ich konnte nicht mehr U-Bahn oder Bus fahren. Ich war mit alltäglichen Situationen überfordert und hatte jeglichen Spaß am Leben verloren.

Ich beschloss mir mein Leben zurückzuholen

Im Jahr 2016 musste ich eine Entscheidung treffen, die bisher schwerste in meinem Leben. Denn meine Krankheit zog sich nur schleichend zurück, genauso wie sie gekommen war: ganz langsam wie eine Schnecke, die eine sechsspurige Autobahn überquert. 

Erst nach einigen Wochen komplett ohne Arbeit ging es mir körperlich etwas besser. Bis ich meinen normalen Schlafrhythmus wieder hatte vergingen sogar Monate. Mein psychischer Zustand stabilisierte sich erst, als ich eine schwere Entscheidung getroffen hatte: ich kündigte meinen Traumjob. Ich hatte beschlossen mir mein Leben zurückzuholen.

Im Herbst 2016 kündigte ich nicht nur meinen Job, ich kündigte auch meine Wohnung, verkaufte meine Möbel und buchte ein One-Way-Ticket ans andere Ende der Welt. Fünf Monate reiste ich alleine um den Globus. Ich lernte viel über andere Länder, Menschen und Traditionen. Doch am meisten lernte ich über mich selbst.

Beim Bergsteigen merkte ich, wie viel Power noch in meinem Körper steckt. Beim Fallschirmspringen wurde mir klar, wie mutig ich bin. Völlig auf mich allein gestellt durchlebte ich wieder Höhen und Tiefen, doch diesmal konnte ich sie selbst steuern. Ich war noch lange nicht an meinen Grenzen angekommen.

Am anderen Ende der Welt fand endlich wieder zurück zu mir selbst.

Skydive 04

Doch ich hatte ein Detail übersehen

Nach meiner Rückkehr nach Deutschland bin ich aus Liebe zu meinem Beruf und sicherlich auch aus Bequemlichkeit wieder zurück in mein altes Leben gegangen. Ich habe mir zwar einen neuen Wohnort, einen neuen Arbeitgeber und neue Schwerpunkte in meinem Job gesucht, habe ansonsten aber viele alte Strukturen beibehalten: die Medienbranche, den starken Zeitdruck, die vielen Ellenbogen der Kollegen, die langen Arbeitstage, die wenigen Pausen, die unbezahlten Überstunden und nicht zuletzt meinen Perfektionismus und den damit verbundenen nicht zu erreichenden hohen Anspruch an mich selbst. 

Da ich mich im Laufe der Zeit mit den Magen- und Darmproblemen arrangiert hatte, setzte mein Körper jetzt eine noch härtere Waffe ein, um mich zu bremsen: den Schwindel. Ob am Arbeitsplatz, beim Radfahren oder im Liegen im Bett – ständig drehte sich die Welt um mich herum. Eine Erfahrung, die ich nicht mal meinem schlimmsten Feind wünsche. Zum Schwindel gesellten sich extreme Gliederschmerzen und so starke Wahrnehmungsstörungen, dass ich Schwierigkeiten hatte unfallfrei über die Straße zu gehen. Diese körperlichen Symptome lösten Angstgefühle in mir aus, die ich bis dahin noch nicht kannte – bis hin zu kleinen und großen Panikattacken. Angst wiederum führt zu weiteren Körperreaktionen wie Herzrasen, Übelkeit, das Gefühl keine Luft zu bekommen, ständiges Schwitzen und Zittern, Kribbeln und Taubheitsgefühle in Händen und Füßen, SehstörungenKonzentrationsprobleme und Appetitlosigkeit

Ich hatte mich zu lange durchgebissen

Und als wären diese Symptome nicht schon anstrengend und beängstigend genug, kamen in meinem persönlichen Fall noch ziemlich umfangreiche Zahnprobleme hinzu – Schmerzen unter denen viele Menschen leiden, die zu lange sprichwörtlich „die Zähne zusammengebissen haben“. 

Neben meiner Arbeit nahm ich zum dritten Mal in meinem Leben die Hilfe von Therapeuten an, trotzdem begleiteten mich all diese Symptome zwei weitere Jahre lang. Wegen meines Gesundheitszustandes verlor ich auf für mich ziemlich verletzende Weise zwei tolle Jobs und beschloss dann endlich, mich voll und ganz meiner Krankheit zu stellen.

Burnout: Die unsichtbare Krankheit

Das schwierige am Burnout-Syndrom ist, das kaum jemand die Krankheit nach Außen hin sehen kann – und dass die Betroffenen oft große Schwierigkeiten damit haben sich selbst und anderen gegenüber einzugestehen, dass sie erkrankt sind und Hilfe brauchen.

Auch bei mir hat es mehrere Jahre gedauert bis ich selbst wusste, dass ich an einer Depression und einer Angststörung erkrankt bin. Noch weitere Jahre hat es gebraucht bis ich anderen gegenüber zugeben konnte, dass ich nicht voll leistungsfähig bin. Und am längsten hat es gedauert bis ich meine Gefühle und Bedürfnisse wieder spüren konnte, die ich viel zu lange vernachlässigt hatte.

Dein neues Leben wird dich dein Altes kosten

Mittlerweile arbeite ich seit vier Jahren daran wieder gesund zu werden. Dabei wird meine Geduld auf eine harte Probe gestellt: denn es dauert sehr sehr lange, die anerzogenen Glaubenssätze und tief sitzenden Strukturen aus der Kindheit wahrzunehmen und zu verändern.

Habt ihr schonmal versucht öfter ins Fitnessstudio zu gehen, regelmäßig morgens vor der Arbeit eine Runde zu laufen oder auf Fleisch zu verzichten? Dann wisst ihr sicherlich: um neue Verhaltensmuster im Alltag zu verankern braucht es extrem viel Zeit, Geduld und Mut.

Bei all diesen kräftezerrenden Prozessen unterstützen mich tolle Menschen, darunter auch Therapeuten und Ärzte – die meiste Motivation aber kommt von mir selbst.

Ich sehe in meiner Krankheit mittlerweile eine große Chance: die Chance, in Zukunft achtsamer und mit sehr viel mehr Selbstliebe, Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge durchs Leben gehen zu können.

Wer nicht jeden Tag etwas für seine Gesundheit tut, muss eines Tages viel Zeit für die Krankheit opfern.

Sebastian Kneipp, Priester und Naturheilkundler

Wie sieht also mein neues Leben aus?

Ich habe meine Ernährung umgestellt, verzichte seit langer Zeit auf Alkohol, habe neue Sportarten und Hobbys für mich entdeckt und mich auf vielen Ebenen weitergebildet. Ich bin Expertin für meine eigenen Krankheiten geworden, lese viele medizinische Bücher und lerne Pausen in meinen Alltag einzubauen – mit Hilfe von mir völlig fremden Entspannungstechniken wie Progressiver Muskelentspannung, Yoga, Qi Gong und Meditation. Ich habe Energieräuber wie Freundschaften zu unsensiblen Personen und anstrengende Arbeitsverhältnisse beendet, gehe bewusster mit oberflächlichen Social Media Plattformen um und schaue täglich auf meine Gefühle und Bedürfnisse.

Ich bin liebevoller zu mir selbst und akzeptiere, dass ich Ecken und Kanten habe. Ich mache Fehler, scheitere, vergebe mir und nehme bewusst wahr, wenn ich wieder in alte Verhaltensmuster verfalle. Ich habe tolle Menschen um mich herum – alte und neue Bindungen, die ich sehr wertschätze. Ich gehe beruflich neue Wege und entdecke neue Prioritäten und Talente.

Zusammen mit meinen Therapeuten zu Hause und bei Aufenthalten in Kliniken verändere ich Schritt für Schritt tief verankerte Verhaltensmuster und lerne endlich gut für mich zu sorgen.

Und ich habe meine Krankheit öffentlich gemacht: vor Arbeitgebern, Kollegen, Freunden und meiner Familie. Das hat mich einige Jobs und auch einige Freundschaften gekostet – aber es ist jede Mühe wert. Denn endlich habe ich wieder das Gefühl, dass mein Leben mir gehört.

Eines der schönen Dinge solcher extremen Lebensveränderungen sind neue Menschen, die mich auf diesem Weg begleiten. Davon gibt es viele – auch meine Freundin Sophie Borchers, die es geschafft hat, diesen ganz besonders emotionalen Abschnitt meines Lebens in einzigartigen Bildern festzuhalten. Dafür bin ich Dir extrem dankbar!